ÜBER FRAG-WÜRDIGE GEDENKTAGE: ZURÜCKBLICKEN GENÜGT NICHT
Gegen jede Schlußstrich-Mentalität - für eine echte Gedächtniskultur Nachdenklicher Kommentar für Dezember 2007 von Siegfried Böhringer
Die vergangenen, aber auch die kommenden Wochen sind (jedenfalls im christlich-abendländischen Kalender) angefüllt von feierlichen Erinnerungstagen: Zu den vergangenen gehören: das Reformationsfest, der Buß-und Bettag, der Volkstrauertag, der Totensonntag: zu den kommenden: die Adventssonntage, das Christfest, Sylvester, Erscheinungsfest. Und immer wieder ist beim Zurückerinnern hier verbunden, was in persönlichen Schicksalen, was in der nahen oder fernen menschlichen Gesellschaft, was in der kirchlich verstandenen Heilsgeschichte sich ereignet hat. Diesen Kommentar will ich der Frage widmen, worauf es ankommt, wenn wir uns gemeinsam an Vergangenes erinnern. Ich knüpfe dabei an einen Vortrag von Karl-Josef Kuschel an (aus dem ich auch zitiere) über das Mitte Oktober geschehene zeitliche Zusammentreffen der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den israelischen Historiker Saul Friedländer und des diesjährigen Friedensnobelpreises an den früheren amerikanischen Vizepräsidenten und Präsidentschaftskandidaten Al Gore. (Dieser wurde geehrt für seine aufrüttelnden Apelle zur Vermeidung der folgenschweren Veränderung des Weltklimas, Saul Friedländer für seine tief berührendende Holocaust-Geschichtsschreibung "Das Dritte Reich und die Juden")
Zuerst: Klima-Verantwortung und Erinnerung an ermordete Mitmenschen gehört zusammen:.
"Wir leben .. in einer Zeit, in der beide Gedächtniskulturen für uns gleichermaßen unverzichtbar sind. Die Konfrontation mit einer Gedächtnisgeschichte, die uns die von Menschen an Menschen gemachten Verbrechen . . zu verstehen lehrt, aber auch die Konfrontation mit einer Gedächtnisgeschichte unserer Erde, in die wir Menschen durch unseren Lebenswandel eingegriffen haben. Deren Signale müssen wir ebenfalls neu verstehen, um eine Katastrophe zu verhindern, welche nicht länger nur ein Volk, welche die ganze Menschheit betreffen würde."
Dann: Es geht weder darum, Vergangenes irgendwie wieder "aufzuwühlen", noch (umgekehrt), einen beruhigenden Schlußstrich zu ziehen. Vielmehr kommt es darauf an, daß wir unsere Ohren nach beiden Seiten hin nicht verschließen für die Stimmen der Opfer von Gewalt:
Gerade Friedländers Werk wurde "nicht geschrieben, um über den Komplex "Holocaust" den Mantel des Friedens zu decken. Frieden, der auf Gedächtnisverlust, Erinnerungsverweigerung und Schlußstrich-Mentalität beruht, ist ein Schein-Frieden. Frieden kann es nie geben ohne Gerechtigkeit. - Nur ein Erinnern, das den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt, ist friedensfähig. Und den Opfern widerfährt dann Gerechtigkeit, wenn man ihnen auch und gerade in der Welt der Nachgeborenen eine Stimme gibt!" Wie es in der Preis-Begründung für Friedländer hieß: Er hat "den zu Asche verbrannten Menschen Klage und Schrei gestattet, Gedächtnis und Namen geschenkt"
Und schließlich: Unser Erinnern muß ganz und gar angelegt sein als "Mahnung für die Zukunft":
"Diese Form von Gedächtnisgeschichte ist für unser geistiges Überleben auch in Zukunft unverzichtbar. Erinnerungen dieser Art für ein Land sind kein überflüssiger Luxus, kein störender Ballast, kein Sand im Getriebe eines ansonsten glatt funktionierenden Lebens, sondern Teil unserer Kultur - Wer seine Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen." Wer sie jedoch kennt und sich ernstlich zu ihr bekennt, wird frei vom Zwang der Wiederholung. - Daß das menschliche Gehirn fähig ist für eine solche Befreiung zu selbst-verantworteter Zukunft, ist heute auch wissenschaftlich erwiesen, wie z.B. durch den Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch mit seinem Forschungsergebnis "Wir schaffen uns unsere Erinnerungen selbst". Die heutige Hirnforschung kann auch genau angeben, in welchen Hirnregionen diese Neugestaltung des Gedächtnisses sich ereignet. So gilt es in jeder Beziehung und für alle Anlässe des Erinnerns, "Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich auch daran erinnert, was noch zu tun ist." (Ernst Bloch)
Am Tor zur weihnachtlichen Festzeit grüßt herzlich Siegfried Böhringer
(34) Wie die Vergangenheit und die Zukunft so oder so vom Menschen selbst gestaltet und verantwortet wird
Im Anblick der (auch für die auf 2012 geplante Gartenschau in Nagold) bereits teilweise renaturierten Waldach begegnet mir, auf einer Brücke stehend, das Strömen des hier in die Nagold einmündenden Flüßleins immer wieder als Bild für den "Strom der Zeit" - die Zukunft, die Gegenwart, die Vergangenheit:
Wenn ich aufwärts schaue, sehe ich, was auf mich zukommt, wenn ich abwärts blicke, was
von mir weggegangen
und "verflossen" ist,
und ich selbst
finde mich beiden Richtungen gegenüber abwartend, indem ich einmal nach rückwärts, einmal
nach vorne blicke.
Doch mein Eindruck täuscht in diesem einen Punkt: In der Wirklichkeit gestaltet der Mensch seine Vergangenheit und seine Zukunft selbst, und das Hinfließen der Tage und Jahre ist daher immer mein eigener, der von mir/von uns ausgehende und von uns gemeinsam zu verantwortende "Strom der Zeit".
(Auch alle Geschichtsschreibung ist gestaltete Erinnerung, sonst bestünde sie
nur aus nackten Zahlen und Namen und Relikten ohne Sinn und Zusammenhang.)
Wir werden bei jeder Rückschau (auch aufs vergangene Jahr) und jeder Vorschau (auch aufs kommende Jahr) gefragt sein, ob wir beide Zeiten in den Dienst des Friedens stellen oder ob wir es den herrschenden und niemals einfach friedevollen Strömungen der Zeit überlassen. Das heißt: ob wir nicht nur die Wasserläufe unserer Landschaften, sondern den Strom unserer eigenen Lebenszeit immer von neuem "renaturieren" wollen, damit aus einer trüben Brühe frisches Wasser wird, Wasser des Lebens für uns und für die Welt um uns. Auch unser Feiern am kommenden Jahreswechsel mit Rückblick und Ausblick hat daher eine volle Chance, dem Leben zu dienen.
Haftungs Ausschluss.
zurück zur
Startseite der AG Visionen
zurück zum
Inhaltsverzeichnis der AG Visionen
zurück zur Übersicht
Nachdenkliche Kommentare von Siegfried Böhringer